27. Jänner 2019

Lieber Linhart! Ich bin erstaunt! Politische Ansagen schriftlicher Natur bin ich von Ihnen nicht gewohnt. Ihre Hilflosigkeit gegenüber der tolldreisten Unverfrorenheit und Gefährlichkeit unserer momentanen Regierung lässt Sie nicht sprachlos zurück. Das gefällt mir. Ich selber bin ein demonstrierendes Fragezeichen: Wie kann ein Gutteil jener Menschen, denen ich täglich (mehr oder weniger) begegne, es für gut heißen, dass sie nicht mehr selber denken dürfen?

Im Kaffeehaus meiner Lieblingstankstelle bedienen mich schon seit einigen Jahren die gleichen Kellnerinnen. Vielleicht passen die Arbeitsbedingungen. Die Atmosphäre und der Kaffee passen jedenfalls. Manche der Gäste grüßen einander mit Handschlag. Andere sind auf Durchreise und kennen kaum jemanden. Man kommt sich nicht gestrandet vor, sondern willkommen.

Früh um sieben Uhr sitzt mir in der S-Bahn eine junge Frau gegenüber, ganz ungeniert packt sie eine Toiletteutensilie nach der anderen aus, um ihre morgendliche Körperpflege durchzuführen.
Gesichtscreme, Haarbürste, Wimperndusche, Lippenstift, Lidschatten, Ohrringe…In aller Ruhe vollendet sie hier, wozu die Zeit daheim nicht mehr gereicht hat. Ein sehr intimes Schauspiel, finde ich.

Die drei Jugendlichen am Nebentisch in einem Kaffeehaus in Z. rauchen zwischen dem Burger und dem Moor im Hemd jeweils zwei Zigaretten. Ich sitz so nah, dass ich bei ihren Gesprächen mithören kann. Nachdem einmal geklärt ist, wie viel das Wichsergebnis im Vergleich zwischen morgens und abends wiegt, erzählen sie einander die Kennenlerngeschichten ihrer Eltern.

Die Schwiegermutter von A. ist 90 Jahre alt, fährt mit dem Rad durch die Stadt, hüpft über ihren Gartenzaun, anstatt das Gatter zu öffnen um durchzugehen und ist beim Seniorenturnen die Vorturnerin. Ihr Mann – bereits seit Jahrzehnten verstorben, hat sie damals geheiratet, weil sie in einem Theaterstück sehr eindrucksvoll die Rolle der Wildkatze spielte. Das hat für seinen Heiratsantrag und ein gemeinsames Leben gereicht.

Wer von all diesen Menschen hat ein Interesse daran, dass es uns schlechter gehen soll?
Bleiben Sie wach! Mit mir…
Stets die Ihre.

Wenn ich genug vom Atmen habe, öffne ich die Augen…

Published by