Marchtrank

Ein Reisebericht.

Mit von der Partie:

Er, das Geburtstagskind.

Seine Frau.

Die Chauffeuse,

deren Tochter. 

Ein Reiseleiter.

Für Jo & Tibor 

Einen Geburtstag kann man so oder so begehen. Wir fahren
nach Dürnkrut, Marchwasser-Pegel: 287cm.
Die Chauffeuse ist meine Frau. Hinten nehmen unsere Tochter, seine Frau und Er Platz. Meine Tochter, seine Frau und ich sind Einheimische, aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Als noch unwichtiger kann ich nur erwähnen, dass ich mich in der Gegend scheinbar am besten auskenne.
Über unsere Altersgruppen möchte ich schweigen, nur so viel: Beim Wegfahren fühlen wir uns alle noch recht erwachsen.
Nach bescheidenen sieben Minuten Fahrzeit führt uns der Hintausweg vorbei am Velm Götzendorfer Kellerberg zu einer geschmeidigen Straßenansicht von Château de Jedenspeigen. Natürlich irre ich mich in meiner Einschätzung „frühes Mittelalter“ um einen Hauch gewaltig, die erste Erwähnung des Schlosses liegt im frühen zwölften Jahrhundert, wie ich sechs Tage später (Marchwasserpegel: 400cm) recherchieren werde. Zur berühmten Schlacht zwischen Dürnkrut und Jedenspeigen sage ich sicherheitshalber keine Jahreszahlen, die Namen Ottokar und Rudolf scheinen meinen Reisegästen sehr bekannt. Auch beim Château de Dürnkrut strapaziere ich heiße aber zufällig wahre Luft mit meiner barocken Vermutung des jetzigen Erscheinungsbildes.
Das erste Reiseziel heißt Jana. Wir fahren bewusst an der ehemaligen Bahnhofsrestauration vorbei und kontrollieren den Marchwassterstand genauestens. Niemand hat uns zu einer Fließwasserkontrolle gezwungen, aber diese höchst freiwillige Tat tut uns aufgrund der kommenden Freiheitsbeschränkungen knapp vor dem zweiten Corona-Lockdown gut. Außerdem ist feuchte Neugierde hier ziemlich normal. Alle fünfzehn Minuten kommt ein einheimischer PKW mit diesem Anliegen vorbei.
Das Cafe Jana sperrt, wie wir in unserem zweiten Reiseziel erfahren werden, schon seit zwanzig, dreißig Jahre zu. Ich kenne das Lokal von meiner Einkehr, wenn ich mit Traktor und Kipper Marchsand zum Mauern hole. Beim letzten Mal sah ich mich einer Kundschaftsmischung von „angestochenen“ Haklern und einem Double von Voodoo Jürgens gegenüber. Die Gesprächsinhalte kann man, denke ich, den Liedtexten des Originals entnehmen. Er war übrigens auch der Grund, warum meine Tochter unbedingt an dieser Reise teilnehmen wollte.
Unsere Reisegruppe nimmt an einem größeren Tisch im hinteren Teil des Gastraumes Platz. Die Chauffeuse darf auf Geheiß Seiner Frau an unserem Tisch sitzen.  Jana dreht uns persönlich das Licht auf und bedient uns freundlichst. Er konsumiert ein großes Bier und Seine Frau den obersten Teil eines Glas Rotweins. Wir alle finden, dass es von Vorteil ist, dass Bier in der Regel nicht an einem Essigstich leiden kann. Die Stimmung ist anregend und man durchlöchert mich ob der nächsten Reiseziele.
Gitti, – alle unsere heutigen Reiseziele haben schier zufällig einen weiblichen Namen – ist die Wirtin des Gasthauses zum Habsburger, ein paar Kilometer stromaufwärts. Die zugereiste Waldviertlerin führt mit ihrem Mann das Lokal schon einen Deut länger als Jana. Über Jana wollen sich die Einheimischen nicht so recht auslassen. Anneliese, die selbst einmal ein Gasthaus schräg vis à vis von Gitti führte, spricht gelinde gesagt über eine gewisse Unnahbarkeit der Nachbarortschaftler. Soll ja im östlichen Weinviertel nichts Außergewöhnliches sein. Und wir befinden uns im östlichsten Teil von Ostösterreich, emotional der Tundra näher als dem Wiener Stephansdom. Ich selbst hatte bei einem anderen bühnentauglichen Reisebericht die Ostmentalität mit dem Begriff „aggressive Zurückgezogenheit“ prägen dürfen. Damit ist jetzt aber Schluss. Die Ouvertüre der Tochter von Anneliese über schlankes Kochen mit Schlagobers und die starken Bilder ihrer Mutter als Wirtin definitiv im Grenzbereich, münden in einem Stegreifvortrag einer Lehrerin des Nachbartisches. Also Lehrerin ist sie in der Volkschule, obwohl ihr aktueller Zungenschlag auf diverse Weiterbildungen im Erwachsenenmilieu schließen lassen. Zum Thema Distancelearning meint sie, dass es ihr große Freude bereite, den Kindern das ganze Alphabet „von der Weite her“ beizubringen, Buchstabe für Buchstabe. Ihre Kinder, und auf meine Frage hin auch jene der Nachbarortschaft Sierndorf, seinen ihr so derartig ans Herz gewachsen, dass … Er packt das alles nicht mehr und nimmt noch ein Bier zu den herrlich gemüsefreien Specksalzstangerln und Wienerwurstsemmeln. So intensiv im Improtheater war Er schon lange nicht, dabei, engagiert als Marchwirtshaus-Zeitzeugin hatte ich eigentlich nur Anneliese. Das Weißweinniveau ist ganz schön gestiegen, Rosé und Rotwein hinken weiterhin hinterher, meint Seine kulinarisch sichtlich noch nicht ganz befriedigte Frau. Die Chauffeuse, als Einzige noch nüchtern wie ein leeres Blatt Papier, rettet uns aus der Höhle der Löwin und bringt uns fünf Kilometer stromaufwärts nach Waltersdorf.Auch hier haben wir immenses Glück. Beim Betreten der Gaststube entsorgt man gerade noch rechtzeitig einen schwerst Betrunkenen. Anfangs herrscht eine Stimmung wie nach einer Schießerei ohne Todesfall. Katharina, die slowakische Wirtin, sitzt mit zwei Frauen in der Raummitte, rechts davon ein paar Männer, so wie es früher in Kirchen üblich war. Wir nützen die Stille und können das bisher Erlebte bei einem sehr guten, natürlich ausgebauten Glas Weißwein verdauen. Nur Ihr Rosé verstört weiter als Restzuckerbome. Die Innenarchitektur erinnert trotz einiger moderner Materialunsicherheiten an den goldenen Schnitt der Vergangenheit. Von den verträumten Fensternischen bei den Stufen vorbei an der ideal beleuchteten, gut proportionierten Budel, heißen einem die Klosettanlagen derartig willkommen, dass bei uns ein wahres G’riß auf das Klogehen entsteht. Als unsere Reisegruppe dann doch wieder vereint sitzt, bricht das Eis an den anderen beiden Tischen. Die betagten Männer bewegen sich ruhig und gemächlich zum Katharinentisch, dem Ende und Höhepunkt einer Wallfahrt gleich. Aber auch wir steuern auf den Zenit unseres Ausfluges: Er präsentiert uns und unserer ebenfalls kunstbegabten Chauffeuse Seinen Katalog. Plötzlich liegt Sein Leben bild- und schemenhaft auf einer antik wirkenden, grünen Resopal-Tischplatte vor uns. Seine Anfänge am ungarischen Donauarm, die griechische Periode, dann die Weinviertel- und schließlich die Wienzeit, bündeln ein internationales Kunstschaffen, dass uns die Spucke wegbleibt. Selbstverständlich bestellen daraufhin alle noch ein Getränk, – außer Ihr.
Es ist inzwischen dunkel geworden in den nicht weit entfernten Marchauen und wir brechen weiter in den Norden auf. Das Lied von Jimmy Schlager „Waun i aus´n Fenster schau, Nordbahn, Richtung Hohenau …“, geht mir kilometerweit nicht aus dem Sinn. Auch meine Weggefährten scheinen an glücklicher Melancholie zu nagen, das heisst, sie haben Hunger. Ich lasse die Gruppe entscheiden, um als Reiseleiter noch zu ein paar Bonuspunkten zu kommen. Die Reisegesellschaft wirkt schon ein wenig müde und man merkt meine Absicht sekundenlang nicht. Das Los fällt auf Venedig. Die gleichnamige Pizzeria, eine Schwesterlokalität von der Atriumbetreiberin Monika, liegt unweit vom Wahrzeichen von Hohenau, dem barocken Uhrturm. Aus denselben Gründen wie gerade vorhin, gehe ich nicht ins historische Detail. Somit bleibt eines der wenigen Glockenspiele des Weinviertels unerwähnt. Die typische italienische Prägung der Speisekarte und die aussagearme moderne Inneneinrichtung trösten unsere schwer mit slawischem Blut gefüllten Herzen. Es ist, als hätten wir mit den knusprig zarten Pizzen ein wenig Urlaub genommen von der Strapaz der tiefgründigen Fremde im eigenen Land. Hier wäre der ideale Zeitpunkt für das Ende unserer Reise gewesen. Dennoch raufen wir uns nochmals nach Norden auf. Die drei Tumuli an der Straße rechts nach Rabensburg geben in der Finsternis wenig her. Außerdem wurden sie schon im Mittelalter ausgeraubt. Mit unseren Handys beleuchten wir die Beschreibungen des Vogelparadieses der March- und Thayaauen. Aber die Neugierde der Gruppe ist brutal gesättigt. See- und Kaiseradler sowie der extrem seltene Rotmilan können sie nicht wecken.Aber ich gebe nicht auf.
In Bernhardsthal sind wir, an den ehemaligen eiserenen Vorhang anstehend, leicht nach Westen gedriftet und umrunden die größte Teichanlage der Region. Über die fünfundzwanzig Hektar große Anlage führt ein Bahnviadukt von Carl Ritter von Ghega. Die Nordbahn endet hier aus österreichischer Sicht im nahen Břeclav. Heuer bin ich das fünfte Mal am Teich und noch nie hatte Silkes Teichstüberl geöffnet. Nun scheint noch Licht auf die Tretbootanliege-stellen. Die letzte Tischrunde ist im Gehen, Silke gibt Ihm anstelle des georderten Mixgetränkes der Einfachheit halber noch ein Bier, das Er dann später fast voll mitnehmen wird. Sie trinkt mit der Chauffeuse einen Marillenschnaps, der Ihr parfümiert in die Nase steigt. Wir erfahren kurz darauf, das Speisenangebot sei durchwegs bio und handgemacht. Mit dem Wunsch, ob ich ein Glas nicht lieblichen Weines bekäme, fängt Silke äußerst wenig an. Meine Tochter kann das aber in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde blitzschnell klären und wir einigen uns auf ein normales Fluchtachterl. Der allerletzte Gast am Tisch mit uns kippt noch zwei Averna und lallt ein paar unverständliche Wörter. Wir vermuten, es sei tschechisch. Aufgrund weiterer rhetorischer Ungenauigkeiten nehmen wir an, Silke ist extrem erheitert, ähnlich wie wir.
Um das Geburtstagskind ist es sehr still geworden, Seine Frau, eine wahre Meisterin des wortlosen Entertainments, fängt Ihn behutsam auf. Ebenfalls wort-, aber nicht sprachlos, fahren wir die Retourstrecke über Zistersdorf. Die eingeschränkte Nachtsicht der Chauffeuse fällt nicht ins Gewicht. Über dem Nichtgesagten schwebt eine Wolke mystischen Inhalts.
Wenn mich jetzt jemand fragen würde, wo wir gewesen sind, ich würde meinen: Entlang der Urdonau, irgendwo zwischen Kaukasus und Polarstern.

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