DopplerPhilosophie

Großvater Johann Linhart war Schmied. 
Sein erhöhtes Durstempfinden bezüglich des Schmiedefeuers war größer als es seine Frau vertragen hat. Einmal schoss es geradezu aus ihr heraus, indem sie ihrem Mann vorwarf: „Jo Voda (ja Vater), jetzt host scho wieda die gonze Doppla ausgsuffa (ausgetrunken)!“ Johann Linhart antwortete mit stoischer Ruhe: „Mia is goa ned lad (leid) drum.“

Marchtrank

Ein Reisebericht.

Mit von der Partie:

Er, das Geburtstagskind.

Seine Frau.

Die Chauffeuse,

deren Tochter. 

Ein Reiseleiter.

Für Jo & Tibor 

Einen Geburtstag kann man so oder so begehen. Wir fahren
nach Dürnkrut, Marchwasser-Pegel: 287cm.
Die Chauffeuse ist meine Frau. Hinten nehmen unsere Tochter, seine Frau und Er Platz. Meine Tochter, seine Frau und ich sind Einheimische, aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Als noch unwichtiger kann ich nur erwähnen, dass ich mich in der Gegend scheinbar am besten auskenne.
Über unsere Altersgruppen möchte ich schweigen, nur so viel: Beim Wegfahren fühlen wir uns alle noch recht erwachsen.
Nach bescheidenen sieben Minuten Fahrzeit führt uns der Hintausweg vorbei am Velm Götzendorfer Kellerberg zu einer geschmeidigen Straßenansicht von Château de Jedenspeigen. Natürlich irre ich mich in meiner Einschätzung „frühes Mittelalter“ um einen Hauch gewaltig, die erste Erwähnung des Schlosses liegt im frühen zwölften Jahrhundert, wie ich sechs Tage später (Marchwasserpegel: 400cm) recherchieren werde. Zur berühmten Schlacht zwischen Dürnkrut und Jedenspeigen sage ich sicherheitshalber keine Jahreszahlen, die Namen Ottokar und Rudolf scheinen meinen Reisegästen sehr bekannt. Auch beim Château de Dürnkrut strapaziere ich heiße aber zufällig wahre Luft mit meiner barocken Vermutung des jetzigen Erscheinungsbildes.
Das erste Reiseziel heißt Jana. Wir fahren bewusst an der ehemaligen Bahnhofsrestauration vorbei und kontrollieren den Marchwassterstand genauestens. Niemand hat uns zu einer Fließwasserkontrolle gezwungen, aber diese höchst freiwillige Tat tut uns aufgrund der kommenden Freiheitsbeschränkungen knapp vor dem zweiten Corona-Lockdown gut. Außerdem ist feuchte Neugierde hier ziemlich normal. Alle fünfzehn Minuten kommt ein einheimischer PKW mit diesem Anliegen vorbei.
Das Cafe Jana sperrt, wie wir in unserem zweiten Reiseziel erfahren werden, schon seit zwanzig, dreißig Jahre zu. Ich kenne das Lokal von meiner Einkehr, wenn ich mit Traktor und Kipper Marchsand zum Mauern hole. Beim letzten Mal sah ich mich einer Kundschaftsmischung von „angestochenen“ Haklern und einem Double von Voodoo Jürgens gegenüber. Die Gesprächsinhalte kann man, denke ich, den Liedtexten des Originals entnehmen. Er war übrigens auch der Grund, warum meine Tochter unbedingt an dieser Reise teilnehmen wollte.
Unsere Reisegruppe nimmt an einem größeren Tisch im hinteren Teil des Gastraumes Platz. Die Chauffeuse darf auf Geheiß Seiner Frau an unserem Tisch sitzen.  Jana dreht uns persönlich das Licht auf und bedient uns freundlichst. Er konsumiert ein großes Bier und Seine Frau den obersten Teil eines Glas Rotweins. Wir alle finden, dass es von Vorteil ist, dass Bier in der Regel nicht an einem Essigstich leiden kann. Die Stimmung ist anregend und man durchlöchert mich ob der nächsten Reiseziele.
Gitti, – alle unsere heutigen Reiseziele haben schier zufällig einen weiblichen Namen – ist die Wirtin des Gasthauses zum Habsburger, ein paar Kilometer stromaufwärts. Die zugereiste Waldviertlerin führt mit ihrem Mann das Lokal schon einen Deut länger als Jana. Über Jana wollen sich die Einheimischen nicht so recht auslassen. Anneliese, die selbst einmal ein Gasthaus schräg vis à vis von Gitti führte, spricht gelinde gesagt über eine gewisse Unnahbarkeit der Nachbarortschaftler. Soll ja im östlichen Weinviertel nichts Außergewöhnliches sein. Und wir befinden uns im östlichsten Teil von Ostösterreich, emotional der Tundra näher als dem Wiener Stephansdom. Ich selbst hatte bei einem anderen bühnentauglichen Reisebericht die Ostmentalität mit dem Begriff „aggressive Zurückgezogenheit“ prägen dürfen. Damit ist jetzt aber Schluss. Die Ouvertüre der Tochter von Anneliese über schlankes Kochen mit Schlagobers und die starken Bilder ihrer Mutter als Wirtin definitiv im Grenzbereich, münden in einem Stegreifvortrag einer Lehrerin des Nachbartisches. Also Lehrerin ist sie in der Volkschule, obwohl ihr aktueller Zungenschlag auf diverse Weiterbildungen im Erwachsenenmilieu schließen lassen. Zum Thema Distancelearning meint sie, dass es ihr große Freude bereite, den Kindern das ganze Alphabet „von der Weite her“ beizubringen, Buchstabe für Buchstabe. Ihre Kinder, und auf meine Frage hin auch jene der Nachbarortschaft Sierndorf, seinen ihr so derartig ans Herz gewachsen, dass … Er packt das alles nicht mehr und nimmt noch ein Bier zu den herrlich gemüsefreien Specksalzstangerln und Wienerwurstsemmeln. So intensiv im Improtheater war Er schon lange nicht, dabei, engagiert als Marchwirtshaus-Zeitzeugin hatte ich eigentlich nur Anneliese. Das Weißweinniveau ist ganz schön gestiegen, Rosé und Rotwein hinken weiterhin hinterher, meint Seine kulinarisch sichtlich noch nicht ganz befriedigte Frau. Die Chauffeuse, als Einzige noch nüchtern wie ein leeres Blatt Papier, rettet uns aus der Höhle der Löwin und bringt uns fünf Kilometer stromaufwärts nach Waltersdorf.Auch hier haben wir immenses Glück. Beim Betreten der Gaststube entsorgt man gerade noch rechtzeitig einen schwerst Betrunkenen. Anfangs herrscht eine Stimmung wie nach einer Schießerei ohne Todesfall. Katharina, die slowakische Wirtin, sitzt mit zwei Frauen in der Raummitte, rechts davon ein paar Männer, so wie es früher in Kirchen üblich war. Wir nützen die Stille und können das bisher Erlebte bei einem sehr guten, natürlich ausgebauten Glas Weißwein verdauen. Nur Ihr Rosé verstört weiter als Restzuckerbome. Die Innenarchitektur erinnert trotz einiger moderner Materialunsicherheiten an den goldenen Schnitt der Vergangenheit. Von den verträumten Fensternischen bei den Stufen vorbei an der ideal beleuchteten, gut proportionierten Budel, heißen einem die Klosettanlagen derartig willkommen, dass bei uns ein wahres G’riß auf das Klogehen entsteht. Als unsere Reisegruppe dann doch wieder vereint sitzt, bricht das Eis an den anderen beiden Tischen. Die betagten Männer bewegen sich ruhig und gemächlich zum Katharinentisch, dem Ende und Höhepunkt einer Wallfahrt gleich. Aber auch wir steuern auf den Zenit unseres Ausfluges: Er präsentiert uns und unserer ebenfalls kunstbegabten Chauffeuse Seinen Katalog. Plötzlich liegt Sein Leben bild- und schemenhaft auf einer antik wirkenden, grünen Resopal-Tischplatte vor uns. Seine Anfänge am ungarischen Donauarm, die griechische Periode, dann die Weinviertel- und schließlich die Wienzeit, bündeln ein internationales Kunstschaffen, dass uns die Spucke wegbleibt. Selbstverständlich bestellen daraufhin alle noch ein Getränk, – außer Ihr.
Es ist inzwischen dunkel geworden in den nicht weit entfernten Marchauen und wir brechen weiter in den Norden auf. Das Lied von Jimmy Schlager „Waun i aus´n Fenster schau, Nordbahn, Richtung Hohenau …“, geht mir kilometerweit nicht aus dem Sinn. Auch meine Weggefährten scheinen an glücklicher Melancholie zu nagen, das heisst, sie haben Hunger. Ich lasse die Gruppe entscheiden, um als Reiseleiter noch zu ein paar Bonuspunkten zu kommen. Die Reisegesellschaft wirkt schon ein wenig müde und man merkt meine Absicht sekundenlang nicht. Das Los fällt auf Venedig. Die gleichnamige Pizzeria, eine Schwesterlokalität von der Atriumbetreiberin Monika, liegt unweit vom Wahrzeichen von Hohenau, dem barocken Uhrturm. Aus denselben Gründen wie gerade vorhin, gehe ich nicht ins historische Detail. Somit bleibt eines der wenigen Glockenspiele des Weinviertels unerwähnt. Die typische italienische Prägung der Speisekarte und die aussagearme moderne Inneneinrichtung trösten unsere schwer mit slawischem Blut gefüllten Herzen. Es ist, als hätten wir mit den knusprig zarten Pizzen ein wenig Urlaub genommen von der Strapaz der tiefgründigen Fremde im eigenen Land. Hier wäre der ideale Zeitpunkt für das Ende unserer Reise gewesen. Dennoch raufen wir uns nochmals nach Norden auf. Die drei Tumuli an der Straße rechts nach Rabensburg geben in der Finsternis wenig her. Außerdem wurden sie schon im Mittelalter ausgeraubt. Mit unseren Handys beleuchten wir die Beschreibungen des Vogelparadieses der March- und Thayaauen. Aber die Neugierde der Gruppe ist brutal gesättigt. See- und Kaiseradler sowie der extrem seltene Rotmilan können sie nicht wecken.Aber ich gebe nicht auf.
In Bernhardsthal sind wir, an den ehemaligen eiserenen Vorhang anstehend, leicht nach Westen gedriftet und umrunden die größte Teichanlage der Region. Über die fünfundzwanzig Hektar große Anlage führt ein Bahnviadukt von Carl Ritter von Ghega. Die Nordbahn endet hier aus österreichischer Sicht im nahen Břeclav. Heuer bin ich das fünfte Mal am Teich und noch nie hatte Silkes Teichstüberl geöffnet. Nun scheint noch Licht auf die Tretbootanliege-stellen. Die letzte Tischrunde ist im Gehen, Silke gibt Ihm anstelle des georderten Mixgetränkes der Einfachheit halber noch ein Bier, das Er dann später fast voll mitnehmen wird. Sie trinkt mit der Chauffeuse einen Marillenschnaps, der Ihr parfümiert in die Nase steigt. Wir erfahren kurz darauf, das Speisenangebot sei durchwegs bio und handgemacht. Mit dem Wunsch, ob ich ein Glas nicht lieblichen Weines bekäme, fängt Silke äußerst wenig an. Meine Tochter kann das aber in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde blitzschnell klären und wir einigen uns auf ein normales Fluchtachterl. Der allerletzte Gast am Tisch mit uns kippt noch zwei Averna und lallt ein paar unverständliche Wörter. Wir vermuten, es sei tschechisch. Aufgrund weiterer rhetorischer Ungenauigkeiten nehmen wir an, Silke ist extrem erheitert, ähnlich wie wir.
Um das Geburtstagskind ist es sehr still geworden, Seine Frau, eine wahre Meisterin des wortlosen Entertainments, fängt Ihn behutsam auf. Ebenfalls wort-, aber nicht sprachlos, fahren wir die Retourstrecke über Zistersdorf. Die eingeschränkte Nachtsicht der Chauffeuse fällt nicht ins Gewicht. Über dem Nichtgesagten schwebt eine Wolke mystischen Inhalts.
Wenn mich jetzt jemand fragen würde, wo wir gewesen sind, ich würde meinen: Entlang der Urdonau, irgendwo zwischen Kaukasus und Polarstern.

Kein Gedicht

Ende einer Ära

Das Wort „Graf“ kann man von der Wortherkunft einerseits als „Schreiber“, andererseits als hohen römisch kaiserlichen Finanzbeamten deuten. Beides trifft bei dem ehemaligen Betreiber des Etablissements Graf (vormals Bahnhofswirtshaus) zu. Nicht nur als Schreiber bei unzähligen Kartenpartien, auch als Clubchef der Sonderklasse ist und war er uns bekannt. Was meine ich mit Sonderklasse? Nun, es war kein (offizielles) Gasthaus, es war für mich und einer kleinen Herde  Kulturmenschen im Raum Sulz definitiv mehr. Ein Achterl Wein ist bald wo getrunken, ein zweites auch, aber ab dem dritten und vor dem ersten braucht man eine Atmosphäre der sinnvollen Leidenschaft, damit der Schuss nicht nach hinten losgeht. Formulieren wir es vorschichtig als Geborgenheit, wenn es einen Tisch, oder eine Budel gibt, wo Mann und Frau so reden können, wie ihm oder ihr der Schnabel gewachsen ist. Wo man Dinge erfährt oder manchmal auch los wird, die einem das Herz erleichtern. 

Wie aber war das Wunder der einfachen und hohen Kunst der Geselligkeit möglich? 

Die Empfangsdame, gleichzeitig auch Servicechefin, leitete das operative Geschäft, Gäste kamen und gingen, der Graf sah, sprach und genehmigte sich und uns etwas. Man spielte mit Worten, Karten und Neuigkeiten, als ob es kein Morgen gäbe.

Aber es gibt ein Morgen, zwar ohne Etablissement Graf, aber mit einer starken Erinnerung.

Der ehemalige Montagskunde 
Manfred Linhart

5. Mai

Sie blühen ins Nichts
Haltlos wie dünnes Gras
Sind ins Stocken geraten
Die brauchbaren Wörter
Des Trostes

Der innere Lärm
Macht Zärtlichkeit vergessen
Trotzen der Schwermut des Regens 
Die brauchbaren Wörter
Des Trostes

Den brauchbaren Wörtern des Trostes
Scheint die Sonne vergesslich, nachts
Da wir sie nicht sehen
Hört sie niemand
Sonst

Manfred Linhart

Karfreitag in Hühnerbergen

Schicht um Schicht
Umspült von seichtem Meer
Die fossile Wand
Zwölf Millionen Jahre später
Klagt ein fremdes Ich
Gehörmuschellang

Jerusalem hat kein Meer
Ausser das der Tränen
Wie schön die Stille
Ostern kommt glaubhaft
Ohne Glocken

Glaube versetzt keine
Berge im Laufen
Gegen diese Wand
Nur das Innehalten
Bewegt die See

Manfred Linhart

November 19

Es zeigt, wie schön wir es haben, meint der Fotograf (T. Kulcsar)

Eins.
Ein Blick zurück in den Sommer, die Schatten hinter uns lassend. 
Das Geschenk der Natur ist immer neu. In jedem Augenblick. Mir ist klar, sie braucht unsere Wahrnehmung nicht, um beseelt zu sein, vielmehr beseelt sie uns, indem wir uns ihr nähern.

Sie sagen’s mit Rilke: 

https://kabarettwein.und-so.at/wp-content/uploads/2019/11/Rilke-3.mp4

Zwei.
Unlängst macht der Sohn ausnahmsweise einen Herbstspaziergang mit der Mutter unter der Bedingung, während der Kurzwanderung ein Gedicht auswendig zu lernen. Das erinnere ihn so an seine Schulzeit. Da waren diese Ausschreitungen mit der Erziehungsberechtigten immer gekoppelt mit Französisch-Vokabel-Lernen (verhasst) oder Gedichtauswendiglernen (erträglich). Französisch können beide kaum mehr. 
Sich ein Gedicht einzuverleiben war allerdings unlängst ein richtiges Vergnügen.

Drei.
Die Geborgenheit, die darin liegt, sich die richtigen Speisen auf der Zunge zergehen zu lassen:
Brimsen, kräftig. 
Walnuss, frisch aus dem Gehäuse.
Zichorie, bitter.

28. Oktober 19


Lieber Linhart! 

Sie verlieren mich?
Heißt das, Sie sehen mich neu? 
Oder vermuten etwas, das Sie nicht kennen von mir? Lässt sich Ihre Nachricht vom August so deuten?  Anderes fällt mir dazu nicht ein und nicht zu. Ich versuche jetzt, von mir ab zu sehen und auf Distanz zu gehen. Zu mir.  So erzähle ich Ihnen vom roten Sofa, das seit kurzem erst in meiner Werkstatt Platz gefunden hat. Ich sitze am roten Sofa und sehe:

zu Viel.

(Ohne Distanz zu mir:
Steht mir der Sinn nach ausräumen, wegräumen, lüften.
Steht mir der Sinn nach einem Raum, klärender als Sonnenschein.)

lost in lissabon

Plößnig, ich muss Ihnen noch etwas sagen. Ich verliere Sie. Ich, oder meine literarische Physis endet in Lissabon, einer Stadt, in der die Schiffe stehen und die Stadt sich bewegt.