Ringelblume

15. November, mein Garten
15. November, der Garten meiner Mutter

Ich nehm alles zurück. Von wegen – ich sei schon lange nicht mehr ausgesetzt gewesen, den Kräften der Natur: Es ist Mitte November. Wir möchten meine Mutter besuchen. Je mehr wir uns dem Tal, in dem sie wohnt, mit dem Auto nähern, desto klarer wird, ohne Schneeketten geht da wohl nichts weiter. Seit 30 Jahren habe ich solche nicht mehr gebraucht. Und genauso lange ist’s her, dass ich welche angelegt hab. Der Schneekettenverkäufer erklärt genau, wie einfach das zu bewerkstelligen ist, das Anlegen.  Mit großen Augen schau ich ihn an – er meint, mein Blick sei ein  zustimmender. Ich weiß es besser: ich schau wie eine Kuh vorm neuen Tor. Die Modelle sind laut seiner Auskunft viel praktischer geworden. Ich finde, die alte Version war logischer.

Und dann kommt doch alles anders.

40 km vor dem Dorf meiner Mutter wird die Hauptstraße endgültig gesperrt. Der starke Schneefall bringt Bäume zum Stürzen. Sie fallen auch quer über die Straße. Außerdem sind Lawinen und Murenabgänge nicht auszuschließen. Kurzfristig gibt es keinen Telefonkontakt. Von wegen – die Natur haben wir in unserer Gewalt!
Wir drehen um. Der Test, ob ich die Schneeketten anlegen könnte, muss auf ein anderes Mal vertagt werden. Eines der ältesten und zugleich aktuellsten Menschheitsthemen hat uns eingeholt. Das von Macht und Ohnmacht gegenüber der Natur. Die Alpen sind Dynamik, lese ich in der Zeitung

gezählte Sterne

Ich bin unter anderem deshalb so gern in meiner Werkstatt, weil mich dort normalerweise niemand anspricht. Es ist mir unangenehm, mir das einzugestehen: ich werde mit zunehmendem Alter menschenscheu. Für eine, die es Zeit ihres Lebens gewohnt ist, Menschen um sich zu haben (schon als Säugling war ich nie allein!), zu kommunizieren und einen Großteil ihres Lebenssinnes aus Beziehungen zu Menschen zu schöpfen, mutet es befremdlich an, dass sie einfach ihre Ruhe haben will. Beim Zugfahren oder auf der Straße, beim Warten auf etwas, im Supermarkt, beim Wandern, der Chorprobe oder der innerbetrieblichen Weiterbildung. Liebste Freizeitbeschäftigung sind mir mittlerweile Schweigeexerzitien. Oder eben der ungestörte Aufenthalt in meiner Werkstatt abseits unseres Wohnhauses. Ich übertreibe nicht!

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