Allerheiligen

Lieber Linhart!
friedhofmeidling
Einige Bahnsteige des Meidlinger Bahnhofes in Wien liegen unmittelbar neben einem Friedhof. Beim Warten auf meinen Zug nach Graz schau ich direkt auf diese Ruhestätte. Dass diese um einige Meter höher als der Bahnsteig liegt, lässt mich an austretende Leichensäfte denken.

So endlich gestimmt lande ich im Zug und stricke ich an meinem Schal weiter. Der Schaffner bemerkt im Vorbeigehen, dass ihm dieser Socken wohl nicht passen werde. Da helfe alles Messen nichts. Ich könne das Werkstück höchstens in der Mitte auseinanderschneiden und dann eine Haube daraus machen. Aber dann, frage er sich, weshalb ich nicht gleich eine Haube stricke…?
Mir bleibt für einen kurzen Moment der Mund offen ob solch philosophischer Schnellschüsse im Intercity. Letztendlich einigen wir uns darauf – der Schaffner und ich – dass er im Laufe der Zugfahrt noch einmal vorbeikommen wird , um die Strickerei anzuprobieren. Ich verbiete es mir, weiter darüber nachzudenken, was das wohl noch alles wird.

31.Oktober 2016

…bis ans Ende der Erde ihr Gespräch. PS 19,5b

ubahnweb
Vor den Kopf gestoßen.

Auf manchen U-Bahnsitzen sitzt man und hat eine Wand als Gegenüber, ziemlich nah ist diese Wand.
Probieren Sie es einmal, so zu sitzen, mit offenen Augen. Ohne Musik in den Ohren oder einem Buch vor der Nase.

So sieht das also jetzt aus! Das Brett vor dem Kopf erweitert sich zur Wand.

Sein UND haben, nicht sein ODER haben.
Ich weiß, Erfolg hat nichts mit Leistung zu tun, ein Großteil der Menschen leistet unglaublich viel, ohne Erfolg zu haben. Denken Sie nur an……
Oder müssen wir vor unserer Diskussion erst klären, was Erfolg ist? Stimmt meine Wahrnehmung, dass Ihnen Erfolg gar nicht so wichtig ist? Oder sind Sie ohnehin in ihrem Sinn erfolgreich?
Unseren Raum, den wir zur Verfügung sehen, mit unseren Ideen besetzen, mehr Möglichkeit haben wir nicht. Ist das Erfolg?

Es ist nie so wie immer.
Bleiben wir im Gespräch!

25. Oktober 2016

Lieber Linhart!
jesuitenkircheweb
In Wien sehe ich hauptsächlich Menschen mit sauber geputzten Schuhen. Passend dazu in einer Kirche der Innenstadt: Gewänder des Übergangs. 2 überdimensionierte Kleider hängen nebeneinander vom Gewölbe herab. Eines in Weiß das andere in dunklen Farben. Da muss ich Vergänglichkeit denken. Der Anblick rührt mich, obwohl das alles gar nicht so zart daher kommt. Ein Gewand abstreifen, ein anderes überstreifen. Ich für meinen Teil verwandle mich am liebsten von der Geschäftigen zu einem Betthupferl. Ganz ohne Hintergedanken. Und dazu brauch ich nicht mal ungeputzte Schuhe.

Unlängst hörte ich einem renommierten Naturwissenschafter während eines Vortrages zu. Er meinte, wir brauchen eine neue Romantik: Das an der Welt sehen und in die Welt setzen, was ich für schön halte. Es ist erstaunlich für mich aus dem Mund eines Wissenschaftlers zu hören, was Sie mir schon seit Jahren versuchen begreiflich zu machen. Werd ich ihnen jetzt eher glauben?

Wohin führt Sie mein Gesichtsausdruck?

24. Oktober 2016

Lieber gefallener Linhart!

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Es hat lange gedauert, zu reagieren. Auf ihre Sommererlebnisse. Inzwischen überschreitet der Herbst seinen Höhepunkt und ich sehne den Winterschlaf herbei.

Die Natur ist zur Lesezeit nicht meine Freundin. Sie macht was sie will. Das ist doch unverschämt. Sie ist stärker als ich. Das halte ich für noch unverschämter. Ein handfester Konflikt baut sich da jedes Jahr zur Lesezeit laut und verlässlich auf. Das ergibt sich aus der Natur der Sache! Soll ich sie nur bewundern und mich ihr vorbehaltlos beugen?

Fast zeitgleich mit dem Erstarken dieses Konflikts, fülle ich einen Fragebogen zu meiner Lebenszufriedenheit aus und muss feststellen, dass sie ziemlich sehr hoch ist! Die Zufriedenheit. Will ich also doch sein, wo ich bin? Zwischen Sauerkraut einschneiden, Essigherstellung, Wandern durch Hohlwege und dem genauen Hinhorchen auf Resonanz?

Heute die Ihre.

22.9.2016

Der See nach dem Gewitter ist schöner denn je. Morgens richtet er sich seine Oberflächen neu. Hier kommt seine Vielschichtigkeit besonders zum Tragen.

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Liebe Plößnig!

Der Sommer ist seit gestern um 16.21h Geschichte. Ich habe ihn überlebt. Am 25.8. um 8.h irgendwas bestieg ich unter herrlichen Vorraussetzungen den Großglockner. Ein paar Stunden später im flachen Auslauf auf die Stüdlhütte brach sich mein linker, äußerer Knöchel ein Bein. Alles schier zusammenhangslos. Dennoch zerre ich definitiv von beiden Erinnerungen. Einerseits die Bilder vom Dach der Alpen. Majestätisch und frei der Glockner, gebunden und weiss der Gips.

Die Weinlese steht vor der Tür wie ein Fremder auf Heimatbesuch. Die Natur versucht Erfrierungs- und Wasserschäden in der Herbstsonne zu laben. Wie ich sehe, but gemischt. Alles wird gut, auch mein Bein.

2. September

In der Speisekammer.
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Der eingekochte Sommer.
Der eingetrocknete Sommer.
Angehaltenes Glück. Konservierte Erinnerung:

Herzbeere. Butterpilze. Schwarzer Holler. Eierschwammerl. Mädesüß. Almampfer. Preisselbeeren. Habichtspilze. Franzosenkraut. Vogelbeeren. Goldröhrling. Steinpilze. Saure Zucchini. Getrocknete Paradeiser. Und ganz wenig Dirndlmarmelade. Wir werden über den Winter kommen, sollte die Weinernte auch noch halbwegs gut im Keller landen.

Wie leicht ich mich begeistern kann!
Ihre satte Plößnig

 

31. August

Am See.
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Lieber Linhart – Will ich das?
Mich von der Muse küssen lassen, dass ich im Anschluss daran wieder mehr leisten kann?

Der See ist ein Spiegel. Zu jeder Tages- und Nachtzeit ein anderes Bild. So seh ich mich auch gern. Ab und zu uneinschätzbar. Vor allem mir selber gegenüber.
Ihre Plößnig

Anfang August

Lieber Linhart!
Haben sie Humor, wenn sie alleine sind, fragte einst Max Frisch.
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Sie sind so ernst in Ihrer letzten Anbahnung.
Sie wollten damit den geburtstäglichen Umständen gerecht werden?
Den denkwürdigen Augenblick würdigen?
In Dankbarkeit zurückschauen?
Den davonschwimmenden Fellen abgeklärt nachwinken ?
Manifestieren, dass sie mit halber Überzeugung glauben, die Midlifecrisis überwunden zu haben?

Mein Arbeitskollegen ist ca. 100 Jahre alt und mit ausreichend Humor ausgestattet. Er meint auch, es ist ernst. Dieses Leben. Und erst der Tod. Ihm vertraue ich diesbezüglich. Er hat eine vollkommen ungekünstelte Art, mit diesen Umständen befreundet zu sein.

So bleiben Ihnen also mindestens 50 Jahre, diesem Ernst noch näher auf den Grund zu gehen! Sie Glücklicher!

14. Juli

Liebe Plößnig!

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Das ist ein besonderer Tag. Vielleicht ist es global gesehen der europäischste Tag überhaupt? Am Sturm auf die Bastille ist aus meiner Sicht nur die Gewaltanwendung zu kritisieren. Gewalt ist scheiße. Aber Klassenunterschiede aufzuheben, das ist DIE europäische Idee schlechthin, oder?   Das Politische unserer Tage hat zuwenig Europa und damit meine ich nicht den, ich wiederhole mich, „scheiß“ Beamtenapparat, sondern den humanistischen Gedanken. Wissen Sie, wie lange ich das Wort Humanismus nicht gebraucht habe? Entsetzlich lange. Sie sind stark, weil Sie sich Ihrer Schwächen bewusst sind. Bitte bringen Sie Europa nach Hause. In flüssiger Form in den Kühlschrank von mir aus. Bleiben Sie mir treu, wenn auch auf Distanz.

Ihr Linhart

P.S.: Der ebenfalls am 14.Juli geborene Ingmar Bergmann hat gesagt: „Es gibt keine Grenzen, weder für Gedanken noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“